Kinder, die ihren Müttern entrissen werden, Flüchtlinge, die kein Hafen aufnimmt: Die westliche Abwehr der Migration droht, zivilisatorische Fortschritte aus Jahrhunderten zunichte zu machen.
Essay von Gustav Seibt (www.sueddeutsche.de) Es war eine Meldung, die unter so vielem anderen Verstörenden vielleicht nicht sofort jeden erreicht hat: Die amerikanischen Behörden lassen an der mexikanischen Grenze Kinder von ihren Eltern trennen, wenn diese illegal die Grenze überschritten haben. Nach Angaben der amerikanischen Behörden wurden zwischen Mitte April und Ende Mai nach einer verschärften Direktive rund 2000 Kinder von ihren Familien getrennt. Der Menschenrechtskommissar der Vereinten Nationen Seid Ra'ad al-Hussein forderte die Trump-Regierung am Montag auf, die "skrupellose" Praxis zu beenden.
Man kann vermuten, dass das Entsetzen, das diese Nachricht auslöst, der wichtigste Zweck der Maßnahme ist. Der administrative Eingriff in die symbiotische Verbindung zwischen Kindern und ihren Eltern, vor allem den Müttern, ist nicht nur grausam, er mobilisiert ein Maximum an Ängsten. Neben öffentlicher Folterung ist kaum etwas Schrecklicheres vorstellbar.
Zu den kostbarsten zivilisatorischen Fortschritten zählt die Zurückdrängung von öffentlicher Gewalt
Wieder einmal wirken ein paar Jahrhunderte wie ausgelöscht. Offenbar kann man alles zurückdrehen. Denn Grausamkeit und Öffentlichkeit, das gehörte in der Geschichte der Staaten seit jeher zusammen. Diese existierten jahrhundertelang geradezu als "öffentliche Gewalt". Hinrichtungen, das waren ja immer große Schauspiele. Es war für die Menschen im Mittelalter und der frühen Neuzeit schwer möglich, so ein Schauspiel nicht wenigstens einmal im Leben zu sehen, auf Stadtplätzen und an Dorfrändern, mal als Enthauptungen durch Axt oder Schwert, mal als Hängung oder Verbrennung. In ausgesuchten Fällen wurde gevierteilt oder gerädert. Auch öffentliches Verschmachten in aufgehängten Käfigen war möglich. Diesen finalen Bestrafungen gingen in der Regel langwierige Folterungen in den Kerkern voraus, Befragungen, die "Beweise" für die Notwendigkeit öffentlicher Grausamkeiten liefern mussten.
Danach ließ man die Opfer oft wochenlang an den Galgen hängen, gern an befahrenen Straßen oder an Flussufern. Kaum verwundert berichteten britische Reisende davon in der Barockzeit am schönen Mittelrhein. In Goethes Jugend durfte man an der Frankfurter Hauptwache Straftäter "trillern": Diese saßen in einem drehbaren Käfig, den müßige Bürger so lange anschubsen konnten, bis der Delinquent sich übergeben musste. Eine im einstigen Grausamkeitskontext fast gutartige Mitmachfolter, die erst allmählich aus der Mode kam. Galgen standen noch am Stadtrand von Weimar bereit, als dort schon die "Iphigenie" gedichtet wurde.
Wer ein Auge dafür hat, wird in unseren Altmeistersammlungen zahllose solcher Szenen entdecken, eher bei den Holländern als bei den Italienern (diese konzentrierten sich auf die scheußlichen Martyrien der Heiligen). Könnten wir in die Vergangenheit reisen, die Allgegenwart solcher Szenen würde uns wohl am meisten befremden.
Allerdings würden unsere Vorfahren, würden sie bei uns vorbeischauen, sich wohl ebenso über das Tötungsaufkommen in der abendlichen Fernsehunterhaltung wundern. Weniger überrascht wären sie wohl von Korrespondentenberichten aus Kriegsgebieten, vor allem nicht von der Gewalt gegen Frauen und andere Zivilisten. Und das ist nur die europäische Geschichte der Gewalt, der sich die anderer Weltgegenden anschließen könnten.
Internationale Zusammenarbeit Gleichheit in der Defensive
Zu den kostbarsten, womöglich unwahrscheinlichsten zivilisatorischen Fortschritten der letzten 250 Jahre zählte die Zurückdrängung von öffentlicher, obrigkeitlich sanktionierter Gewalt vor allem in Europa. Zwei große historische Prozesse mussten dafür zusammenkommen. Erstens eine neue Empfindsamkeit, ein Horror vor der Grausamkeit. Sie war unter anderem eine Folge des Exzesse im Dreißigjährigen Krieg und anderen religiösen Konflikten, die Hexenverfolgungen eingeschlossen. Zweitens die Durchsetzung von Staatsgewalt bis in die unteren Ebenen der Gesellschaft. Ein flächendeckendes Polizei- und Gefängniswesen, eine professionalisierte Strafrechtspflege, damit einhergehende Debatten über den Zweck von Strafen und den Nutzen der Folter machten diese Zurückdrängung staatlicher Grausamkeit möglich. Das dabei entstehende Gewaltmonopol des modernen Staates beruht auf der Drohung, allerdings einer glaubwürdigen.
Der moderne Militärstaat pazifizierte die Gesellschaft, indem er Gewalt in Kasernen vorrätig hielt, ohne sie allzu oft einsetzen zu müssen. Das galt übrigens auch in zwischenstaatlichen Konflikten. Eine große, gut gerüstete Armee schützte in einem instabilen Staatensystem im Zweifelsfall besser als alle Verträge. Allerdings bedeutete eine solche Armee eine permanente Versuchung, sie einzusetzen. So war die zweite Form der Abschreckung ein flexibles Bündnissystem, in dem kein Einzelner für Aggressionen belohnt wurde. Aber das war vor allem eine Idee, keine Wirklichkeit.
Außenpolitik nimmt die Form archaischer Kriminalitätsbekämpfung an
Denn natürlich konnten auch die Mittel der Einhegung wilder Gewalt zu solchen methodischer Gewalt werden, in Militärdiktaturen und den Lagersystemen totalitärer Staaten. Der Rückfall fand im Herzen jener Institutionen statt, die Gewalt hatten eindämmen sollen. Dabei spielen solche Systeme mit einer Mischung aus Öffentlichkeit und Geheimnis. Selbst bei heimlichen Verbrechen kann doch immer so viel herausdringen, dass die Angst allgemein wird. Und in den kolonialen Hinterhöfen der zivilisierten Staaten regierte brutale physische Gewalt weiter ungehemmt. Die vornehme Empfindsamkeit war immer insular.
Stabil funktioniert hat Abschreckung unter Großmächten ein einziges Mal, im Kalten Krieg zwischen den beiden Blöcken. Spätestens seit der Kuba-Krise von 1962 ging die Welt auf Katzenpfoten, um die atomaren Minen nicht zu sprengen. Aber auch in dieser Zeit zeigte sich der Weltkonflikt in einem Gürtel von Stellvertreterkriegen auf anderen Kontinenten.
Die sogenannte Migrationskrise bringt nun eine altneue, schmutzige Form der Abschreckung zurück, die auf Anschaulichkeit beim Publikum der vernetzten Kommunikation abzielt. Außenpolitik nimmt die Form archaischer Kriminalitätsbekämpfung an. Geschichten wie die von den entrissenen Kindern sollen sich viral verbreiten. Denselben Zweck hatte das Drama um das Rettungsschiff Aquarius, mit dem sich der neue italienische Innenminister Matteo Salvini allerdings mindestens ebenso an seine heimische Klientel wandte wie an auswanderungswillige Afrikaner.
Die Transporttoten, die Erstickten und Ertrunkenen, die schmutzigen Lager, die schneidenden Zäune und jetzt die entrissenen Kinder, all das, was seit vielen Jahren an den Rändern der westlichen Welt alltäglich geworden ist, erregt von Fall zu Fall ein vorübergehendes Entsetzen. Im schlimmsten Fall entwöhnt es uns von einem historisch fragilen Grausamkeitstabu. Das Bewusstsein, dass die Grausamkeit eine permanente Möglichkeit darstellt, kann nur zu rationaler Politik führen. Das sinnlose Sterben an den Rändern unserer Welt ist eine Aufforderung, Migration zu ordnen, anstatt einen Krieg mit Bildern zu führen, bei dem wir selber verlieren.
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